Gigantin an der Wand…

Mural von Tristan Eaton - Attack of the 50 Foot Woman

…oder the „Attack of the 50 Foot Socialite“ – ein Mural von Tristan Eaton

Na, wer hat Angst vor dieser gigantischen Lady:

Streetart in Berlin Friedrichshain: Mural „Attack oft the 50 Foot Socialite“ von Tristan Eaton

Eine meiner Lieblingsradrouten durch Ost-Berlin führt am Volkspark Friedrichshain vorbei an diesem eindrucksvollen Mural von Tristan Eaton: „Attack of the 50 Foot Socialite“. Eine Hommage an das Filmplakat „Angriff der 20-Meter-Frau“ (original Filmtitel: „Attack of the 50 Foot Woman“) von 1958. Das Plakat erlangte damals Kult-Status. Verständlich, wie ich finde. Hier die Vorlage des Streetart Murals:

Filmplakat „Attack of the 50 Foot Woman“

Ich habe den Film leider nie gesehen. Wikipedia gibt Aufschluss, worum es in diesem Science Fiction Klassiker von 1958 geht:

Das Mural dieser schönen Riesin, einer sogenannten Socialite* – auf Deutsch Partylöwin oder Prominente -, an einer Hauswand in Berlin Friedrichshain ist nicht zu übersehen. Auf den ersten Blick wirkt die Gestalt in Übergröße auf mich farbenfroh facettenreich und aufregend schön. Sie strahlt etwas Mystisches und Gefährliches aus…

Was mich immer wieder an der schönen Berliner Streetart fasziniert, ist der Überraschungseffekt, wenn man durch die Stadt radelt und unvermittelt darauf zustößt. Auf einmal erscheint eine farbenfrohe Gestalt an einer Hauswand, die dich anblickt. Du radelst drauf zu, schaust sie an und denkst: „Wow!“…

Mural „Attack oft he 50 Foot Socialite“ von Tristan Eaton am Volkspark Friedrichshain

Sie scheint etwas greifen zu wollen. Ist es das vorbeifahrende Auto, die Fußgänger auf dem Gehweg oder der quietschgelbe BVG-Bus, der in ihre Klauen geraten wird?

Wenn ich mir meine Fotos dieses Street Art Murals von heute Nachmittag, als ich darauf zugeradelt und dann stehen geblieben bin, um es zu fotografieren, ansehe, scheint es mir zunächst, als wolle sie – die Gigantin an der Hauswand – die Werbeplakate unter ihr mit ihren klauenartigen Händen fassen:

Ich hätte nichts dagegen, wenn sie die Werbung für unbezahlbare Luxusimmobilien in der Nachbarschaft gegenüber des Märchenbrunnens am westlichen Rand des Volksparks Friedrichshain an sich reißen und zerstören würde… nur so ein Gedanke, der mir kam… Solche Werbung ist für Normal-Berliner:innen wie mich eher provozierend und beunruhigender als der rachesüchtige und zugleich stolze Blick dieser Riesin.

Nachdenklich stimmt auch die Uber-Werbung: „Für deine un-unheimlichen Heimwege…“, die ironischerweise einen Funken Wahrheit in sich trägt: Wenn Frauen, insbesondere solche Partylöwinnen wie die „50 Foot Socialite“ in Berlin (und anderswo) nachts allein von einer Party nach Hause gehen, sind sie nicht immer sicher vor Übergriffen und Belästigung (auf den Partys selbst leider auch nicht…). Warum frau dann ausgerechnet einen Fahrdienst in Anspruch nehmen sollte, der wiederum seine Fahrer:innen mit miesen Löhnen (fahrt Taxi, Leute!!) ausbeutet, macht diese Werbung allerdings zu einem verdammt schlechten Witz. Das Werbeplakat darf die Riesin von mir aus gerne zerstören!

Bildbetrachtung einer Amok laufenden Gigantin

Diese Frau sinnt auf Rache… Das sieht man an ihrem Blick und ihrer Mimik. Vernichtend und voller Verachtung schaut sie nach unten – ähnlich, wie in der Vorlage:

In der linken Hand der „50 Foot Socialite“ brennt etwas lodernd Blau, Orange und Rot gemustert:

Es sind die brennenden Fetzen der bunt gemusterten Maskerade, die sie wie Ketten von sich sprengt.

Einige Fetzen dieser Kostümierung haften ihr noch an, sie sehen ein bisschen aus wie die Überreste einer Tapete oder Geschenkpapier, von der sie sich zu entledigen versucht. Für mich steht diese Maskerade, die sie nicht mehr will, für all den Glamour und die Oberflächlichkeit, für die sie als „Socialite“ so bewundert wurde. Sie hat sich als Partylöwin immer und immer wieder (für andere) schön gemacht. So etwas erwartet man schließlich von EINER wie IHR. Dafür wird sie dann auf den Partys bewundert, verehrt und sicherlich auch beneidet. Doch es scheint ihr in dieser Rolle nicht gut gegangen zu sein, im Gegenteil (warum, kann man sich denken). Jetzt nimmt sie Rache und läuft Amok.

Wie man(n) mit (schönen) Frauen umgeht…

Während die Filmplakatvorlage den Amoklauf einer rachsüchtigen, betrogenen Frau thematisiert, transportiert das Street Art Mural von Tristan Eaton noch mehr und anderes: Ich lese darin Kritik an der Art und Weise, wie heutzutage so selbstverständlich mit (schönen) Frauen (in der Öffentlichkeit) umgegangen wird. Die gigantische Frau an der Hauswand ist eine sogenannte Socialite, eine Partylöwin, vielleicht sogar eine Prominente, die viele kennen… eine tolle Frau, die man(n) gerne auf eine Party einlädt, weil sie für gute Stimmung sorgt, zur Unterhaltung der anderen Gäste beiträgt und vielleicht auch für andere Zwecke…

Ich denke da spontan an Fernsehsendungen wie zum Beispiel „Germany’s next Topmodel“, rote Teppiche auf Premierenfeiern und andere Events, die in der Mode-, Werbe-, Film- und Medienbranche üblich sind, um Aufmerksamkeit für ein Produkt zu erlangen. Diese Frauen sind hier immer gern gesehen, weil sie für Aufmerksamkeit sorgen. Sie sind Mittel zum Zweck für die Veranstalter:innen solcher Events.

Dass man wunderschönen Frauen damit keinen Ehrerweis leistet, sondern ihnen sogar schaden kann, indem man sie als Objekt und Projektionsfläche der eigenen Bedürfnisse und Wünsche betrachtet und missbraucht, und wohin dies im schlimmsten Fall führen kann, hat unter anderem die #MeToo-Bewegung* verdeutlicht.

Ich weiß zwar nicht, was der Künstler bei seinem Mural ursprünglich für Intentionen hatte und welche Botschaften es transportieren sollte. Es entstand 2014 im Rahmen des Street Art Projekts ONE WALL, organisiert vom Urban Nation Museum. Unter dem Motto „ONE WALL – one wall, one artist, one message“ entstehen seit 2014 großformatige Wandbilder in Berliner Nachbarschaften.

Für MICH prangert dieses Mural alltäglichen Sexismus an. Wie man mit Frauen respektvoll umgeht, haben leider viele nicht verstanden (und ich glaube wirklich, das liegt an den falschen Vorbildern, die wir im Fernsehen feiern, wie bspw. Heidi Klums Sendung GNTM und andere sexistische TV-Formate, die Mega-Quoten bringen, aber auch Magazine wie der Playboy, die Porno-Branche sowieso…), weshalb ich solch ein Kunstwerk im öffentlichen Raum, das die Sichtweise auf Frauen in unserer Gesellschaft hinterfragt, so wichtig finde… Es passiert leider viel zu oft, dass Frauen beispielsweise ohne ihren Willen und möglicherweise ohne ihr Wissen gefilmt und fotografiert werden. Wer sich als Socialite einmal auf den roten Teppich und vor die Kamera gewagt hat, von der nimmt man an, dass sie als Fotomodel jederzeit für jeden Fotografen frei zur Verfügung stünde. Das geht so weit, dass Papparazzi-Bilder wie selbstverständlich ihren Weg in die Boulevard-Medien finden und keine:r findet’s schlimm…

…und keine(r) findet’s schlimm…

Aber nicht nur Promi-Frauen, auch ganz „normale“ Frauen wie ich werden im Smartphone-Zeitalter immer wieder ungewollt und ungefragt im alltäglichen Leben gefilmt und fotografiert. Einmal war ich zum Beispiel auf einer Vernissage, als mir einer sein Smartphone ins Gesicht hielt, während er gerade eine Live-Aufnahme für seinen Instagram-Kanal machte. Ich wäre gerne vorher gefragt worden… Oder einmal, als ich feststellte, dass einer meiner Nachbarn von gegenüber mit seiner Kamera mit Zoomobjektiv in meine Richtung fotografierte, als ich gerade… Ich hab dann selbst mit meinem Zoomobjektiv in seine Richtung geschaut und stellte erschrocken fest, was ich alles so in Nachbars Wohn-, Schlaf- und Badezimmer so sehen konnte 😳 😱 alles privat, eigentlich… Ich hab mir dann Gardinen gekauft und immer, wenn sie zumache, denk ich an meinen Nachbarn und zeig ihm diesen hier: 🖕

Zurück zur gigantischen Lady: Die „50 Foot Socialite“ kann sich mit der Rolle einer Partylöwin nicht (mehr) identifizieren. Sie lehnt es ab, so gesehen, wahrgenommen und behandelt zu werden. Stattdessen läuft sie Amok. Ich glaube, sie fühlt sich als Frau und Mensch missverstanden, unterschätzt und möglicherweise sogar gegen ihren Willen wegen ihrer Schönheit ausgebeutet. Sie wäre viel lieber jemand anderes – wenn sie nicht wegen ihrer Schönheit in diese beengte Rolle der Partylöwin gefangen wäre. Sie wäre gerne irgendetwas Wichtigeres als lediglich das hübsche Ding, das schöne Objekt, das man(n) sich gern ansieht.

Indem sie ihre Maskerade – die schöne Kleidung, Haare, Make-Up – und all das, was sie bisher gefangen und klein gehalten hat, abstreift, befreit sie sich von dieser einengenden Rolle der Partylöwin und wächst über sich hinaus. Ohne diese Kostümierung wächst sie zu gigantischer Größe und setzt sich zur Wehr gegen all jene, die in ihr lediglich das geile Partymäuschen, den sexy Vamp oder sonstwas in ihr sehen, was sie nicht ist und nicht sein will. Sie entfaltet innere Kräfte, die bisher nur in ihr schlummerten, von anderen aber klein gehalten wurden. Nun ist das Feuer entfacht und es gibt kein Zurück mehr.

Rette sich, wer kann.

Die Vorlagen: Filmmusik und Plakatkunst der 1950er Jahre

Die Filmmusik von Ronald Stein…

… hört sich übrigens so an:

Vorlagen: Der Koloß & Die unglaubliche Geschichte des Mister C.

Filmplakat „Die unglaubliche Geschichte des Mister C.“

Ja, der Blick dieser Frau auf diesem Filmplakat sagt mehr als alle Worte, die sie jemals zu ihm gesagt hatte…

Uund DAS hier ist auch witzig:

Filmplakat „Der Koloß“

… oder?!

😆 😅 😂 🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣

Bei der letzteren Filmplakat-Betrachtung fällt mir spontan das Schlagwort „Toxische Männlichkeit“** ein. Auch diesen Film habe ich nie gesehen. Die Zeitschrift Cinema bescherte diesem Film ein vernichtendes Urteil: „Unfreiwillig komisch!“ (Quelle: Wikipedia – Der Koloß) Genauso kommt das Filmplakat auch rüber, wie ich finde. Ich denke, ich werde mir diesen Film vielleicht gerade deshalb ansehen!

Weiterführende Links mit Infos:

👉 Über Tristan Eatons Mural für ONE WALL auf der Webseite des Urban Nation Museum

👉 *Der Begriff „Socialite“ erklärt auf Wikipedia:

A socialite is a person, typically a woman from a wealthy and possibly aristocratic background, who is prominent in high society. A socialite generally spends a significant amount of time attending various fashionable social gatherings, instead of having traditional employment.

👉 ** Beiträge zu #MeToo auf Twitter, #MeToo auf Facebook, #MeToo auf Instagram