Zwei Plastik-Cowboys in der Karl-Marx-Allee…

Plastik-Cowboy Skulptur „Jagd auf die Große Bärin“ von Bildhauer-Duo Sonder in der Karl-Marx-Allee

… reiten mit gezogener Knarre gen Osten.

An diesem vermeintlich Naiven Kunstwerk im urbanen Raum in der Karl-Marx-Allee in Berlin Mitte bin ich schon x-mal vorbeigefahren, geradelt und gejoggt und dachte beim Anblick (man kann sie einfach nicht ignorieren) immer so: „Wer denkt sich SOWAS aus? Die zwei sehn‘ bescheuert aus. Naive Kunst bringt mir irgendwie nix.“

Heute hab ich diesen grotesken Reitern eine Chance gegeben und bin stattdessen mal – unter strahlend blauem Himmel und auf frisch gefallenem Neuschnee auf dem Mittelstreifen dieses neu gestalteten Abschnitts der Allee – ganz unvoreingenommen darauf zuspaziert.

Aus der Nähe betrachtet sehen die zwei bunt angemalten Cowboy-Figuren aus Plastik, die mit gehobener Knarre in der Hand auf ihren Pferden den Mittelstreifen der Allee gen Osten Richtung Strausberger Platz reiten, immer noch irgendwie … naja … komisch aus.

Nachdem ich die Erklärung dazu gefunden und gelesen habe, bin ich schlauer. Es ist Kunst! Vom Künstler-Duo Sonder, die Bildhauer Peter Behrboom und Anton Steenbock. Kunst im urbanen Raum mit einer politischen Aussage:

„Reiterstandbild mit Lagerfeuer […] Zwei Schurken aus dem Wilden Westen reiten auf dem Präriemittelstreifen der sozialistischen Prachtstraße gen Osten. Sie sind mit erhobenen Colts auf Shoppingtour, um auf den letzten Freiräumen der Stadt ihre Claims abzustecken. Keine hundert Schritt entfernt steht ein Lagerfeuer das aussieht, als hätte noch eben jemand darum im Kreis gesessen. […]“

Das Lagerfeuer in Schwarz-Rot-Gold, über dem Ziegelsteine brutzeln…


„JAGD AUF DIE GROSSE BÄRIN“ – eine ironische Allegorie des Bildhauer-Duos Sonder

Eine weitere Erklärung, was es mit diesem Kunstwerk im städtischen Raum auf sich hat, habe ich in der Berliner Zeitung hier gelesen – so macht das natürlich Sinn:

„Die Reiterplastik mit dem Titel „Jagd auf die Große Bärin“ ist eine ironische Allegorie. Ausgehend von den DDR-Bestseller-Indianerromanen Welskopf-Henrichs formten die Bildhauer ein „Denkmal“ für den auch in diesen Kiez eingefallenen Kapitalismus, die Gentrifizierung der Wohnblöcke, die enorme Mietverteuerung, die den Bürgern entzogene Gastronomie. Am Freitag geht es rund um die grotesken Reiter, um die Geschichte und die traurige städtebauliche Situation.“

In der Schusslinie: Das Café Moskau von Nicolas Berggruen

Die Reiterfiguren des Künstler-Duos Sonder zielen auf das Gebäude zu ihrer Rechten, das Café Moskau, das zu DDR-Zeiten die Mokka-Milch-und-Eis-Bar beherbergte.

Eine Adresse, die man in Ostberlin zu DDR-Zeiten kannte. Es war mal eine gastronomische Institution (ebenso wie das Café Sibylle*) in der damaligen Prachtstraße der DDR-Hauptstadt.

Jetzt gehört die Immobilie mit der schönen Leuchtschrift dem Investor Nicolas Berggruen bzw. seiner Nicolas Berggruen Holdings GmbH: „Seit 2009 ist das legendäre Cafe Moskau als multifunktionale Tagungs- und Eventlocation für bis zu 2.400 Personen nutzbar.“

Nicolas Bergguen ist ein Immobilieninvestor, der so tut, als ob er der Stadt was Gutes täte, indem er wie viele andere Investoren aus aller Welt in Berlin auf Immobilien-Shoppingtour geht und solche Gebäude wie das Café Moskau der allgemeinen Öffentlichkeit vorenthält und stattdessen für viel Geld einer finanzkräftigen Zielgruppe als Tagungs- und Eventlocation zur Verfügung stellt (wofür ihn die meisten Berliner:innen verachten, nicht so die Politik und natürlich die Anleger seiner Finanzprodukte und…). Eine traurige Tatsache, die das Reiterstandbild „JAGD AUF DIE GROSSE BÄRIN“ künstlerisch und kritisch hinterfragt.

Der wilde Westen im Westen und in der DDR

So sahen also DDR-Spielfiguren aus, nur viel kleiner natürlich. Die Reiterfiguren sind um den Faktor 30 vergrößert nachgebaut. Ja, die Ossis haben auch Cowboy und Indianer gespielt! Wir Wessi-Kinder hatten Playmobil:

Western-Playmobil Stop Motion auf YouTube

Der Winnetou des Ostens hieß Tokei-ihto.

Im Westen Deutschlands durften wir in Karl Mays Geschichten über den Wilden Westen eintauchen. Die Verfilmungen von Winnetous und Old Shatterhands Abenteuer in den 1960ern – wunderbar dargestellt von Pierre Brice und Lex Barker – waren im Westen Deutschlands prägend und inspirierten Generationen.

Im Osten Deutschlands wurde die Wild-West-Romantik in DEFA-Filmen lebendig. Was im Westen Pierre Brice mit Winnetou verkörperte, stellte Schauspieler und „Chefindianer der DDR“ Gojko Mitić in der Verfilmung der Roman-Serie „Die Söhne der Großen Bärin“ dar: der edle und stets allen anderen moralisch überlegene Indianer-Häuptling Tokei-ihto.

Während im Westdeutschen Fernsehen Karl Mays Vorlagen bestimmend waren, erschuf die Schriftstellerin und Althistorikerin Liselotte Welskopf-Henrichs mit ihren Romanen eine etwas andere Sicht auf den Wilden Westen. In ihren Büchern waren Indianer immer die Guten. Als studierte Althistorikerin war ihre Darstellung des sogenannten Wilden Westens in Amerika zudem realistischer als die Karl Mays.

Hier ein Ausschnitt aus dem DEFA-Film „Die Söhne der großen Bärin“ mit Gojko Mitic als Tokei-ihto:

DEFA-Film „Die Söhne der großen Bärin“

Zum Vergleich: Winnetou

Der Wilde Westen in DDR- Comics

In der DDR waren Karl Mays Romane bis in die 1980er Jahre nicht erlaubt, dienten aber auch hier – neben Welskopf-Henrichs Romanen – als Vorlage für zahlreiche Cowboy- und Indianergeschichten in den Ausgaben des Magazins Mosaik**:

„Karl May oder seine Figuren werden im Mosaik niemals erwähnt, dennoch sind vielfach Bezüge zu Karl Mays Werken (Waldröschen, Der Schatz im Silbersee, Der blaurote Methusalem oder Orientzyklus) zu erkennen. Die Vorlagengeberschaft Karl Mays wurde teilweise von Lothar Dräger bestätigt.“ (karl-may-wiki.de)

Mehr Infos:

Über das Kunstwerk „JAGD AUF DIE GROSSE BÄRIN“ auf der Webseite des Bildhauer-Duos Sonder

Zur Schriftstellerin Liselotte Welskopf-Henrich auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Liselotte_Welskopf-Henrich

Artikel „Cowboys auf der Karl-Marx-Allee“ in der Berliner Zeitung

DDR-Spielzeugfiguren im DDR-Museum

Die Zeitschrift Magazin: https://de.wikipedia.org/wiki/Mosaik_(Zeitschrift)

Über Immobilien-Investor Nicolas Berggruen auf Wikipedia

*das Café Sibylle gibt es immer noch, oder Gott sei Dank wieder. Mehr Infos zur Geschichte des Café Sibylle lest ihr hier, auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Caf%C3%A9_Sibylle